Über das Begreifen

Das Kohärenzgefühl

Der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky beschreibt eine gewisse Haltung gegenüber der Welt und dem Leben, die er als Kohärenzgefühl (im Original: "Sense of Coherence" - SOC) bezeichnet.

Menschen mit einem hohen Kohärenzgefühl erleben die Welt als handhabbar, verstehbar und bedeutsam. Entgegen Antonovskys eigener Annahme scheint das Kohärenzgefühl für jeden Menschen erlernbar zu sein. Dabei ist nach unserem derzeitigen Wissen der Einfluss des Kohärenzgefühls auf die psychische Gesundheit größer als auf die körperliche.

Nachfolgend einige Erläuterungen zu den einzelnen Komponenten des Kohärenzgefühls.

Handhabbarkeit

Personen mit einem starken Kohärenzgefühl haben meist ein tiefes Vertrauen darin, dass sie es "schon irgendwie schaffen" werden (Prinzip „Hoffnung“) und werden aktiv, statt Belastungen passiv zu erleiden oder mit einer rosaroten Brille auf bessere Zeiten zu vertrauen. Sie kämpfen und wehren sich, auch wenn die Erfolgschancen gering sind. Sollte der Erfolg dennoch ausbleiben, geht für diese Menschen nicht gleich „die Welt unter“, sondern sie passen sich an die neuen Umstände an bzw. orientieren sich neu.

Vielleicht kennen Sie das Öttinger-Zitat?

„Gott gebe mir die Kraft und den Mut,
Dinge zu verändern, die ich ändern kann,
die Gelassenheit, Dinge zu akzeptieren, die ich nicht ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“

Menschen, die ihre Welt als handhabbar erleben, verfügen naturgemäß über ein selbstsicheres Auftreten, das es ihnen erleichtert, ihre Ziele zu erreichen. In der Tat sind selbstsichere Menschen im allgemeinen körperlich und psychisch gesünder als selbstunsichere. Natürlich sind auch sie nicht weniger heftigen Belastungen ausgesetzt. Sie neigen jedoch dazu, diese als Herausforderungen zu sehen, anstatt darüber zu verzagen. Was andere als Problem sehen, definieren diese Menschen als Aufgabe, die das Leben stellt. Statt zu hadern, handeln sie. Und um es noch einmal zu wiederholen: Diese Einstellung ist erlernbar!

Menschen mit hohem Kohärenzsinn, die ihre Welt als handhabbar erleben, verfügen jedoch noch über eine weitere wichtige Fähigkeit: die Fähigkeit, sich Unterstützung von anderen zu holen bzw. dankbar anzunehmen, statt alles mit sich alleine auszumachen oder deswegen mit sich zu hadern. Sie pflegen aktiv ihre sozialen Kontakte, während Menschen mit einem niedrigen Kohärenzsinn dazu neigen, sich zurückzuziehen, alles in sich hinein zu fressen, oder Kontaktangeboten aus dem Weg zu gehen.

Verstehbarkeit

Fragen Sie sich auch manchmal: Warum gerade ich? Warum musste das ausgerechnet mir passieren?

Diese und ähnliche Fragen plagen auch Menschen mit einem starken Kohärenzgefühl. Aber sie lassen sich davon nicht zermürben und es fällt ihnen vergleichsweise leicht, von all diesen (meist sinnlosen, weil letztlich unbeantwortbaren) Fragen wieder abzulassen. Sie wissen sehr genau, dass sie - wie jeder andere auch - nicht von Schicksalsschlägen verschont bleiben können. Egal, wie unwahrscheinlich das Eintreffen eines Ereignisses auch ist: sie passieren. Und sie können jedem von uns passieren.

Für Personen mit einem starken Kohärenzgefühl passen Schicksalsschläge leichter in ihr Weltgefüge. Sie wissen, dass es nichts ändert, mit seinem Schicksal zu hadern und sein Unglück zu beklagen. Es ist nun mal so, wie es ist. Sie können die Zusammenhänge verstehen und sich darauf einstellen.

Diese Menschen verstehen es auch, sich die Informationen zu holen, die sie benötigen. Es kommt im Leben eines jeden Menschen vor, dass sich Lebensumstände plötzlich ändern und nichts mehr wie früher zu sein scheint. Menschen mit einem starken Kohärenzerleben tun dann aktiv alles, um die neue Situation optimal und flexibel einordnen zu können. Sie wissen, dass sich die Anstrengung lohnt, und sind bereit, sich neu einzustellen, anstatt an Altem starr festzuhalten.

Bedeutsamkeit

Menschen mit einem starken Kohärenzgefühl besitzen die besondere Fähigkeit, in Belastungen die darin enthaltenen Herausforderungen zu sehen, an denen sie wachsen können.

Wer hat nicht schon einmal „Mist erlebt“ in seinem Leben? Wäre ihre Persönlichkeit jemals zu dem gereift, was sie heute ist, wenn sie in ihrem Leben nie „Mist“ erlebt hätten? Wären sie dann heute den Anforderungen des Lebens überhaupt gewachsen? Und wer wird es weiter schaffen in seinem Leben? Der verwöhnte Knabe, dem das Erreichte bisher einfach in den Schoß gefallen ist? Oder der, der sich immer wieder erfolgreich durchgebissen hat?

Ohne erfolgreich gemeisterte Belastungen in der Vergangenheit, hätten Sie heute nicht die Fähigkeit, dem zuweilen stürmischen Wind des Lebens Stand zu halten, und würden bei jeder kleinsten Widrigkeit aus der Bahn geworfen. Erst durch die erfolgreiche Überwindung dieser Schwierigkeiten sind Sie gereift. Belastungen sind also bei allem Übel immer auch eine Chance, eine Einladung zur Reifung und zum persönlichen Wachstum.

Personen mit einem starken Kohärenzgefühl suchen sich gern Aufgaben, für die es sich lohnt, sich zu engagieren und auch Anstrengungen dafür in Kauf zu nehmen, ohne sich darin „zu verbeißen“. Sie setzen sich Ziele und haben Freude daran, mitunter hart an ihrer Verwirklichung zu arbeiten.

Bedeutsamkeit“ heißt in diesem Zusammenhang aber auch, sich selbst als bedeutsam zu erleben. Deshalb pflegen Menschen mit einem starken Kohärenzerleben einen liebevollen Umgang mit sich selbst, auch wenn sie einmal unzufrieden mit sich sind. Sie tun sich Gutes und wissen sehr genau, was ihnen gut tut und wie viel ihnen davon gut tut (d.h. sie können auch Maß halten). Diese Menschen haben die wichtige Fähigkeit gelernt, ihre Bedürfnisse zu erkennen, achtsam für deren Befriedigung zu sorgen, sowie ihre Wünsche zu äußern und offen auszudrücken. Auch das ist lernbar!

Haben Sie sich heute eigentlich schon Gutes getan?